S-Martie

Irgendwo in einer ziemlich großen bergischen Kleinstadt stand irgendwann, vermutliche an einem 08. oder 09. November in den frühen 1990er Jahren eine Frau mittleren Alters an der Bäckerstheke im Einkaufszentrum. „Drei Weckmänner“, sagte sie, „drei richtig große Stutenkerle. Mit Rosinen und Pfeifen. Die sind für meine Enkelinnen, die wohnen jetzt im Schwäbischen. Wissen Se noch, die Kleine, die immer einen Amerikaner gegessen hat? Und mein Mann und ich essen auch einen, statt Stuten.“ Und dann legte sie drei Weckmänner samt Pfeifen und Rosinen in ihren Einkaufskorb und zuhause aßen ihr und Mann und sie einen zu Filterkaffee und Zigarettchen am Nachmittag und zwei wurden in Küchenpapier und Gefrierbeutel verpackt und in einem Paket ins Schwäbische geschickt.
Ich esse immer noch gerne Amerikaner, aber ich wohne nicht mehr im Schwäbischen, und einen echten Weckmann habe ich seit dreißig Jahren nicht mehr gegessen. Trotzdem ist auch dieses Jahr wieder Sankt Martin.
Ich liebe Sankt Martin. Nicht nur wegen der schönen bergischen Kindheitserinnerungen an Weckmänner, an echte Martins mit echtem Feuer auf echten Pferden und ans Martinslaufen, bei dem man den Nachbarn gegen Süßigkeit alle Laternenlieder vorsingt, die man mit fünf Jahren halt so kennt. „Sankt Martin“; sagt mein Kollege, „ist das einzige Fest, das nicht kommerzialisierter ist.“ Und teuer words were never spoken. Sankt Martin ist grundsolidarisch, urdemokratisch und tiefenentspannt. Kein Leistungsdruck wegen der Preisspanne, dem Gruselfaktor oder der DIY-Arbeit wie bei Faschingskostümen, kein Kochen, Backen und Programm wie bei Kindergeburtstagen, keine größeren Investitionen wie an Weihnachten – schlimmstenfalls reicht eine mit Bleistift bemalte Butterbrottüte über einer Taschenlampe. Hauptsache man singt. Laut. Alle Strophen. Auch mehrmals. Wann sonst wird einfach so gesungen, ohne Rücksicht auf Verluste? Spätestens Rabimmelrabammelrabumm kriegt jeder hin, auch wenn er sonst nix kann oder weiß.
Außerdem geht es ums Teilen, was ja heutzutage geradezu revolutionär ist. Meine andere Oma kam aus Brilon, wo Friedrichs Merz’ Opa NS-Bürgermeister war, und ich hoffe, sie singen ganz laut in Brilon und klingeln bei ihm und singen und wollen Süßigkeiten, wenn man von Merzens schon keine Mantelteile oder sonstige Teilhabe bekommt. Meine Ommas kannten alle Strophen von allen Liedern und auch dieses Jahr singe ich inbrünstig, weil im Schnee sitzen eventuell ganz bald weiterverbreitet sein könnte, ach nee, Schnee gibts ja dann auch keinen mehr, zu warm, da brauch man keinen Mantel sowie nicht. Alles Kokolores, hätte meine Uromma gesagt, die aus Fahnen, die man nicht mehr brauchte, Röcke nähte, schwarz für die Kirche, weiß für das Nachthemd, rot für jeden Tag. Sankt Martin war übrigens Soldat und das ist nicht schön, das wusste meine Uromma und all meine Ommas auch und mir hat man das auch eindrücklich beigebracht, weil keine Soldaten, kein Krieg, dann hätte es vielleicht auch noch nen Uroppa für mich gegeben.
Sankt Martin, oder S-Martie, wie mein Neffe sagte, ist einfach das beste Fest.