Biblis, Grüße aus der Vergangenheit

Herr Biblis geht am Nachbarhaus vorbei und hört Herr und Frau Noris streiten. Nein, nie würde er heiraten, denkt er sich. Zuhause angekommen grüßt er seine Ehefrau brav, gibt ihr einen Kuß auf den Mund und setzt sich zu Tisch.

– Klavierspielen ist eine Kunst für sich, meint Herr Biblis zu einem Bekannten als dieser ihm seinen neuen Flügel zeigt. Doch, so fährt er fort, spiele er nicht einmal Geige.

Herr Biblis, über seinen Memoiren sinnierend, erlaubte sich etwas Philosophisches. Man sollte, so dachte er, die gelebte und die überlieferte Vergangenheit nicht vergessen, sondern von ihr leben. Sowohl von der weniger Erinnerungswürdigen als auch von der Guten, für das Weiterleben, Erfahrung sammeln.

Biblis sieht auf einem Spaziergang durch den Park, wie eine Baumschule dort die Bäume zuschneidet. Äste und Zweige, grün und voll Saft, fallen zu Boden. Zu Hause angelangt geht Biblis in seinen Garten, reißt die Stützen weg, die das Pfirsichbäumchen wirklich nicht mehr bräuchte, kniet vor ihm nieder und bittet seinen Baum zu wachsen. Zu wachsen wie es wolle. Ohne Einschränkung.

Einmal, es war auf dem Nachhauseweg von einer Parteiversammlung auf die er von einem Freund mitgenommen wurde, sagte Biblis, auf die Gedankenkonstruktion eines Politikers eingehend, was man sich von einer guten Fee denn wünschen könnte, folgendes. -Erstens, immerwährenden Frieden, zweitens den Wunsch – den Wunsch eines Kindes – die Welt glücklich zu sehen, und, letztendlich, durch das Glück der anderen und, folglich, seiner selbst, sich glücklich zu fühlen.

Nachdem Herr Biblis die Zwanziguhr-Nachrichten angesehen hat, sagt er zu seiner Frau nach langem Vor-sich-hin-starrens, folgendes. -Jeder, auch du und ich, beginnt in manchen Zeiten, in Zeiten wie diesen, in denen man selbst seinem Spiegelbild nicht in die Augen schauen kann, ein Doppelleben, bewußt oder unbewußt. Sprach’s und ließ sich einen Vollbart wachsen.

Einmal, als Herr Biblis in einer schwachen Stunde seinen Gedanken über die Vergänglichkeit des Seins, und ihres Flusses verfiel, kam er zu dem Schluß, daß die Zukunft letztlich ganz alleine in der Vergangenheit liege. Sofort rasierte er seinen Vollbart ab, als er sich dieser seiner Erbschuld bewußt wurde, von dem Fehler, überhaupt von den Bäumen herabgekommen zu sein.

Einmal im Herbst, als Herr Biblis mit seiner Frau unter dem Pfirsichbaum lag, die milden Sonnenstrahlen genießend, sprach er. -Ich bin kein Mann der Tat. Ich warte immer, bis es zu spät ist. -Darum hast du ja mich, sagte seine Frau und pflückte für ihn eine überreife Pfirsich.

Manchmal, so denkt Herr Biblis über den dampfenden Kantinenteller seine Mitarbeiter anstarrend, ist leben wie essen. Oft wird versucht, alles hinunterzuschlucken, ohne vorher zu kauen. Daraufhin zermahlte Biblis den Linseneintopf mit den Backenzähnen, fletscherte ihn zwischen den Zähnen hindurch und spülte ihn mit Fruchtsaft hinunter.

Als Herr Biblis eines Nachts wieder die dunklen Speicherflure Kafkas aufsuchte, erinnerte er sich im Traum an seine Jugend. Er war auf dem Speicher seines Elternhauses vor den bösen Nachbarsjungen geflohen und versteckte sich dort. Sofort fand er sich jetzt zurecht in diesen Winkeln, roch den Moder und all das seit Jahren dort gelagerte Gerümpel, und bemerkte plötzlich, daß es bei seinen Großeltern auf dem Dachboden ebenso gerochen hatte. Biblis war so überrascht, daß er davon aufwachte.

Noch Tage danach hatte er den Geruch in der Nase, konnte sich ihm nun nach all den Jahren des Vergessens erinnern.

Einmal fragte sich Herr Biblis, und er wußte, daß es absurd war, überhaupt daran zu denken, ob nicht sein Kontingent an Glück erschöpft sein könnte. Ob nicht, nach all den Jahren und es waren derer mittlerweile nicht gerade wenig, er plötzlich sein Glück aufgebraucht haben könnte und er nur mehr Pech für den Rest des Lebens haben könnte. Doch da hatte er bereits den Hausschlüssel gefunden, und flugs die Türe aufgeschlossen, wobei er eben gedachtes bereits vergessen hatte.

-Wenn ich’s mir recht überlege, sagt Biblis in einer allzu stillen Stunde an seinem Schreibtisch und starrte in sein Buch, wüßte ich nicht, daß ich eine Vergangenheit hätte, wenn ich sie nicht täglich schreiben würde.

-Ich bestehe aus mir und meinem weiblichen Unterschied, sagte Biblis zu seiner Frau, als sie am Abend gemeinsam ins Ehebett stiegen. Sie bestätigte ihn mit einem Kopfnicken und dann taten sie das, was ein jeder konservativer Schriftsteller tunlichst zu beschreiben unterläßt.

Nachts, im Bett erdrückt von der Schwüle des vergangenen Sommertags, dreht sich Frau Biblis um zu ihrem Ehemann und fragt: -Was hast du damals in deinem ersten Liebesbrief über Platon geschrieben? -Daß ich nicht viel von ihm halte, auch wenn ich sein Alter schätze, antwortete Biblis. -Dann küß’ mich!

Biblis sitzt im Garten vor seinem Pfirsichbaum. Geduldig schaut einer Blüte beim Schlüpfen aus der Knospe zu. Dabei vergisst er das Abendbrot. Seine Frau empfängt ihn mit den Worten: -Dauert ewig, ist ein zeitloser Spruch.

Auch ein Schluß:

Als sie zuhause angelangt waren, holten sie die Fahrräder aus dem Schuppen hinter dem Haus und fuhren aus diesen Geschichten weg. Und nur Du, mein geduldiger Leser, der sich von jedem hinter das Licht führen läßt, bleibst mit den Gedanken zurück, die ich Dir aufgedrängt habe, wie der Verlorene mit seinem Schicksal…